Dieser Artikel wurde von Alok Jha geschrieben und erschien zuerst auf Guardian.co.uk
Die Nanowissenschaften erweisen sich für die Wissenschaftler als derart mächtiges Instrumentarium, dass sie mittlerweile in sämtlichen Bereichen von der Medizin über die chemische Verfahrenstechnik bis hin zur Weltraumforschung zum Einsatz kommen, um vorhandene Probleme zu lösen.
Es begann mit der herausfordernden Ansage eines großen Physikers. Im Jahr 1959 hielt der Nobelpreisträger Richard Feynman einen Vortrag mit dem Titel „There’s plenty of room at the bottom“ (auf Deutsch: Viel Spielraum nach unten), in dem er eine Frage aufwarf: „Rechenmaschinen sind sehr groß und können ganze Räume füllen“, sagte er. „Warum können wir sie nicht ganz klein machen, aus kleinen Drähten, kleinen Bauteilen – und mit klein meine ich klein.“
Seine große Idee bestand darin, existierende Objekte zu miniaturisieren. Sie könnten von Grund auf durch die gezielte Manipulation einzelner Atome oder Moleküle erstellt werden. Mehr als ein halbes Jahrhundert später, würde er möglicherweise nicht wiedererkennen, wie seine Ideen sich in ein mächtiges Instrumentarium für Wissenschaftler verwandelt haben, das heute als Nanotechnologie bezeichnet wird.
„Im weitesten Sinne reden wir von einem milliardstel Meter [einem Nanometer] und Technologien, die typischerweise in der Größenordnung zwischen 10 und 100 nm anzusiedeln sind“, äußert sich Keith Dingwall, Analytiker am britischen Institute of Nanotechnology. „Worum es hierbei geht, ist die Manipulation von Materialien auf molekularer Ebene.“
Dieser Bereich geht weit über das Ziel Feynmans hinaus, die Dinge kleiner zu machen. Ideen aus den Nanowissenschaften kommen in sämtlichen Bereichen von der Medizin über die chemische Verfahrenstechnik bis hin zur Weltraumforschung und Telekommunikation zum Einsatz „Ich würde sie nicht als Disziplin bezeichnen, sondern als Instrumentarium oder Werkzeugkoffer“, meint Gabriel Aeppli, Professor für Physik am London Centre for Nanotechnology. „Sie kommen im Mikroelektronikbereich ebenso zum Tragen wie in der medizinischen Diagnostik – beispielsweise verwenden Schwangerschaftstests Nanopartikel aus Gold. Sie sind ein Instrumentarium, das von Menschen genutzt wird, um auf zahlreichen Gebieten Probleme zu lösen, ohne dass ihre Bezeichnung eine Rolle spielen würde.“
Demzufolge kann es auch keine typischen Labore für Nanowissenschaften geben. An dem einen Ort mit der Vorsilbe “Nano” an der Tür findet man womöglich Wissenschaftler, die komplett neue Materialien erschaffen. An einem anderen legt man den Schwerpunkt vielleicht auf die Entwicklung von Solarzellen, deren Aufbau von einem natürlichen Blatt inspiriert wurde. Und an einem dritten Ort könnten Atome auf einer Oberfläche umherbewegt werden, um herauszufinden, was für seltsame Dinge auf der Nanoebene geschehen.
Mit der neuen Technologie geht auch eine neue Verantwortung einher, und Nanowissenschaftler behaupten, dass sie sich der Probleme im Zusammenhang mit der Manipulation derart kleiner Objekte bewusst seien. „Mit zunehmendem Wohlstand wurden Gesellschaften üblicherweise auch risikoscheuer, aber sie wurden auch reich genug, um Schritte zur Senkung des Risikos bei der Erforschung der neuen Chemie in die Wege leiten zu können“, erklärt Aeppli. „Meinem Eindruck nach müssen wir mit allen Stoffen, die bislang noch nicht getestet wurden, einfach auf die gleiche Weise verfahren, wie wir es auch mit den Dingen tun, die ein synthetischer Chemiker produzieren könnte.“
Kohlenstoff-Nanoröhren
Zum Beispiel Kohlenstoff-Nanoröhren. Diese winzigen Röhrchen bestehen aus Kohlenstoffatomen und sind unglaublich stabil und leitfähig, aber aufgrund ihrer Form könnten sie potenziell schädlich sein. Einige frühe Untersuchungen an Labormäusen deuteten darauf hin, dass eingeatmete Kohlenstoff-Nanoröhren sich wie Asbestteilchen verhalten könnten. Was geschieht bei einer vermehrten Einbindung von Nanoröhren in Alltagsmaterialien, wenn sie freigesetzt werden und in die Umwelt gelangen?
Für eine Antwort bedarf es strenger Tests und einer strikten Kennzeichnung von Nanopartikeln und vollkommen neuen Materialien. Aber es gibt auch Stimmen, die anführen, dass zu viel Vorsicht auch Innovationen verhindern kann. „Einer Technologie vorgreifen (und sie im Voraus regulieren) zu wollen, die es noch nicht gibt, ist keine gute Idee“, meint Ineke Malsch, Direktorin von Malsch TechnoValuation und Autorin eines EU-Berichts zur Ethik der Nanotechnologie im Rahmen von ObservatoryNANO.
Die meisten aktuellen Anwendungen von Nanotechnologien ließen sich durch bereits vorhandene Rechtsvorschriften für Bereiche wie beispielsweise die Chemikalien- oder Medikamentensicherheit abdecken. Laut Malsch werden sich die zentralen Fragen langfristig auf die Art und Weise konzentrieren, in der die Nanowissenschaften mit unserer Biologie wechselwirken – bis hin zum „Human Enhancement“, also der Technisierung des menschlichen Körpers. „Wo verläuft die Grenze der Nanotechnologie bei medizinischen beziehungsweise biologischen Anwendungen oder Behandlungsformen, um kranke Menschen zu heilen – wo beginnt die Optimierung von Menschen, um gesunde Menschen besser zu machen?“ Malsch führt weiter aus: „Derzeit haben Politiker und Entscheidungsträger keine echte Vorstellung davon, wie eine Regulierung aussehen sollte oder welche anwendbaren Normen und Standards sowie ethischen Werte für diese Kernfragen gelten sollten. Glücklicherweise bleibt uns noch genügend Zeit dafür, weil die Technik noch nicht ausgereift ist.“
Die Medizin ist ein wichtiger Anwendungsbereich. Alfred Cuschieri, Leiter des Institute for Medical Science and Technology (IMSAT) und Honorarprofessor an den Universitäten von Dundee und St Andrews, hat im Rahmen des europäischen Nanotechnologie-Forschungsprojekts NINIVE an einer neuartigen Methode zur Behandlung von Menschen mithilfe von Kohlenstoff-Nanoröhren mitgewirkt. Jedes Nanoröhrchen trägt an seiner Oberfläche eine kleine Menge eines Arzneimittels und ist in der Lage, in die (krebsartigen oder sonstigen) Zellen des Körpers einzudringen, wie eine Nadel in Nanogröße. Wenn die Nanoröhrchen ihr Ziel erreicht haben, sorgt ein Mikrowellenimpuls von außen dafür, dass sie ihre pharmazeutische Fracht im Inneren der Zellen abgeben. „Ich schätze, dass in etwa drei bis vier Jahren damit begonnen werden kann, gezielte Medikamentenabgabesysteme auf Basis von Kohlenstoff-Nanoröhren in frühen klinischen Phase-I-Studien zu testen“, sagt Cuschieri.
Er fügt hinzu: „Im Anschluss an das Projekt haben wir herausgefunden, dass diese Kohlenstoff-Nanoröhren mit einem ganz bestimmten Aufbau tatsächlich in der Lage sind, Nervenzellen zu stimulieren. Dies führte zu einem Folgeprojekt: Wenn man beispielsweise Patienten, die an Parkinson leiden, einige dieser speziellen Nanoröhrchen einsetzt, können die Zellen mit der Energie eines Mobiltelefons stimuliert werden.“
Weit weniger komplexe Produkte sind bereits erhältlich, um in Ihrem Einkaufswagen zu landen. Nanopartikel unterschiedlicher Art werden bereits in Sonnenschutzmitteln und Autolacken verwendet, sie kommen bei der Katalyse chemischer Reaktionen in Fabriken zum Einsatz und sind aus keinem modernen elektronischen Gerät mehr wegzudenken.
„In der Elektroindustrie hat man schon seit langer Zeit Objekte auf der Nanoebene manipuliert, es aber nie so bezeichnet“, gibt Dingwall zu bedenken. „Beispielsweise werden bei der Herstellung von Speicherchips Goldpartikel mit Objekten wie Kohlenstoff-Nanoröhren kombiniert.“ Laut Dingwall nutzt die Menschheit die Früchte der Nanotechnologie bereits seit tausenden von Jahren (ohne es zu wissen), aber die Technik zur Manipulation steht ihr erst seit wenigen Jahrzehnten zur Verfügung. Erwarten Sie Großes (aber das sehr klein).